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Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom – Interview mit Sieglinde G.

Sieglinde ist 39 Jahre alt und bekam sehr spät das Asperger-Syndrom diagnostiziert. In ihrem Buch schreibt sie über ihren Lebensweg sowie Schwierigkeiten und Besonderheiten des Asperger-Syndroms. Dabei liefert sie ehrliche und authentische Eindrücke in das Leben einer Asperger-Autistin.

Eine Sprechblase und ein Mikrophon, dazwischen der Schriftzug Persönliche Erfahrungsberichte, auf dunkelblauem Hintergrund. | © EnableMe

Persönlicher Erfahrungsbericht (EnableMe)

Das Buch „Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom“ ist am 12.07.2022 im Manuela Kinzel Verlag erschienen. Darauf folgten bereits einige Publikationen und Beiträge, wie beispielsweise bei der Sendung Impuls des Radiosenders SWR am 9.8.2022 sowie ein Interview bei LTO Karriere am 24.8.2022.

Wir freuen uns sehr, dich heute bei unserem Interview zu Gast zu haben und bedanken uns an dieser Stelle noch einmal für deine Zeit und das entgegengebrachte Vertrauen! Möchtest du dich zu Beginn einmal kurz in eigenen Worten vorstellen?

Sehr gerne, mein Name ist Sieglinde, ich bin 39 Jahre alt, verheiratet, von Beruf Juristin und bei mir wurde Anfang letzten Jahres die Diagnose Asperger-Syndrom gestellt. Für mich war es eine gewisse Erleichterung, zu wissen, warum ich immer ein bisschen „anders“ bin. Ich mache gerne Sport, gehe Wandern, Joggen, Nordic Walking, lese gerne, spiele auch einige Musikinstrumente und Brettspiele.

Du hast kürzlich das Buch „Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom“ geschrieben, das am 12. Juli 2022 im Manuela Kinzel Verlag erschienen ist. Möchtest du einmal grob zusammenfassen, wovon du in deinem Buch erzählst und was dich dazu bewogen hat, dieses Buch zu schreiben?

Asperger-Syndrom ist nicht jedem ein geläufiger Begriff, den müssen viele erstmal nachschlagen. Als ich die Diagnose bekam, haben mir biografische Berichte von anderen Personen sehr geholfen. Ich habe mich darin wieder erkannt und bekam das Gefühl, die Person tickt ähnlich wie ich, das war eine große Motivation. Ich gehe mit meiner Diagnose offen um, bei mir im Bekannten- oder Kollegenkreis konnten viele damit nichts anfangen. Mir ist wichtig, das Asperger-Syndrom bekannter zu machen und mehr Menschen darüber zu informieren, was Betroffene in der Situation für Schwierigkeiten haben und dass man ihnen helfen kann, damit sie sich besser in der Gesellschaft zurechtfinden können.

In meinem Buch lege ich meinen Lebensweg dar. Es gab sehr viele Schwierigkeiten in meinem Leben, vor allem in der Kindheit, der Jugendzeit und im Erwachsenenalter. Ich wusste nicht, warum ich so anders bin. Mein Weg war auch gepaart mit Magersucht, depressiven Verstimmungen, einer starken Außenseiterrolle, ich hatte keinen einfachen Weg. Das lege ich in meinem Buch dar und erkläre die Denkweise von Asperger-Autisten und was bei ihnen anders ist.

In Ihrem Buch “Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom” berichtet Sieglinde G. von ihrem Lebensweg sowie Schwierigkeiten und Besonderheiten des Asperger-Syndroms, dabei liefert sie ehrliche und authentische Eindrücke in das Leben einer Asperger-Autistin.

Buchcover zum Buch „Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom“ von Sieglinde G., blauer Hintergrund, weiße Schrift, gelber Smiley mit verschlossenem Mund | © Sieglinde G.

Buchcover „Unterwegs mit dem Asperger-Syndrom“ von Sieglinde G., erschienen am 12.07.2022 im Manuela Kinzel Verlag

Was kann man sich unter dem Asperger-Syndrom vorstellen und wie genau äußert sich das bei dir?

Ich habe insbesondere Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion. Ich tue mich sehr schwer, Smalltalk zu betreiben. Autisten kommunizieren sehr gerne auf der sachlichen und faktischen Ebene. Mir fällt es schwer zu antworten, wenn mich jemand fragt, wie es mir geht oder wie meine Woche verlaufen ist. Das wäre eine wahnsinnig komplizierte Frage, weil ich dann erstmal überlegen müsste, wann fing die Woche an? Heute ist Dienstag, was war seit Dienstag vor genau einer Woche? Oder was war seit gestern, wo die Woche losging? Da würde mein Kopf sehr viel filtern, das kommt nicht intuitiv. Ganz banale Fragen bereiten mir sehr viele Schwierigkeiten.

Warum wurde diese Besonderheit bei dir erst im Alter von 38 Jahren entdeckt und wie kam es dazu? Wie hat sich das für dich angefühlt?

Ich habe immer gemerkt, dass ich Schwierigkeiten mit der Kommunikation und in Gruppensituationen habe, aber konnte mich mit der Diagnose Sozialphobie nie so richtig anfreunden. Ich war wegen Stimmproblemen nach einer Kehlkopfentzündung in logopädischer Behandlung und dort kam zur Sprache, dass ich auch kommunikative Schwierigkeiten habe. Dann haben wir ein rhetorisches Training gemacht und ich habe gemerkt, dass ich mit bestimmten Situationen einfach nicht umgehen kann und das nichts mit Angst zu tun hat. Daraufhin habe ich ein bisschen im Internet nachgeforscht, bin auf das Asperger-Syndrom gestoßen und habe gedacht, das könnte bei mir zutreffend sein. Anschließend bin ich zu einer Fachärztin gegangen, bei der ich früher bereits in verhaltenstherapeutischer Behandlung war und habe meinen Verdacht abklären lassen. Meine Vermutung hat sich bestätigt und für mich war es eine große Erleichterung, das fehlende Puzzleteil zu finden.

Was sind deine außergewöhnlichen Begabungen und Interessen?

Es ist zwar kein Diagnose-Kriterium, aber viele Menschen mit Asperger-Syndrom haben Spezialinteressen. Bei mir ist es die deutsche Sprache. Ich sammle Wörter oder ganze Formulierungen, die ich irgendwo gelesen oder gehört habe und die mir gut gefallen in einem Vokabelheft. Diese lese ich mir ab und zu durch und versuche, die Formulierungen in den aktiven Wortschatz mit aufzunehmen. Ich beschäftige mich sehr gerne mit Wörtern. Ansonsten beschäftige ich mich sehr gerne mit Musik und spiele mehrere Instrumente.

Wie fiel die Entscheidung für das Jura-Studium? Wie hast du diese herausragende Leistung von zwei Prädikatsexamen gemeistert?

Bei einem Jura-Studium ist das Thema Sprache sehr dominant, man muss viele Texte lesen, was mit meinen sprachlichen Interessen überein passt. Asperger-Autisten machen viel mit der Logik und das Jura-Studium ist sehr logisch aufgebaut. Ohne meine Diagnose zu kennen, dachte ich, dieses Studium könnte etwas für mich sein, da ich mich viel mit Sprache beschäftige und sehr logisch denke. Das Studium war für mich nicht ganz einfach, weil ich sehr zurückgezogen gelebt habe. Ich konnte keine sozialen Kontakte aufbauen, weil ich nicht in der Lage war, Leute anzusprechen. Dann wurde ich leicht depressiv und war in psychotherapeutischer Behandlung, was alles ein bisschen erschwert hat. Ich habe stimmungsaufhellende Medikamente bekommen und mich durch das Studium gemogelt, hatte aber schließlich einen guten Abschluss.

Als erstes Unternehmen in Deutschland beschäftigt Auticon ausschließlich Menschen mit Autismus als Consultants im IT-Bereich und ist dementsprechend auch auf die Bedürfnisse dieser Menschen eingestellt. Kennst du dieses Unternehmen? Wie findest du dieses Konzept?

Ich habe am Rande schon mal davon gehört, näher damit beschäftigt habe ich mich jedoch nicht. Ich würde sagen, das ist ein zweischneidiges Schwert. Ich finde, die reine Beschäftigung von Autisten in einer Firma erinnert ein bisschen an eine Behindertenwerkstatt und vermittelt ein Gefühl der Ausgrenzung. Natürlich gibt es Autisten, die im Arbeitsmarkt Fuß fassen können und wenn alle in einem Betrieb separiert werden, dann könnte vor allem in der Gesellschaft das Gefühl aufkommen, das seien Außenseiter und mit ihnen könne man nicht zusammenarbeiten. Wenn sie in einen normalen Betrieb integriert werden, dann wäre es mehr ein gesellschaftliches Miteinander. Andererseits ist es schön, wenn Autisten unter sich sind, sie ticken ähnlich und ihre Besonderheiten fallen nicht so auf wie beispielsweise bei größeren sozialen Veranstaltungen, die ich persönlich meide.

In unserer EnableMe Community tauchen die Themen Autismus und Asperger-Syndrom auch häufig auf. Diese beiden Fragen interessieren unsere Community besonders: Was würdest du empfehlen, wenn eine Person Verdacht auf Autismus oder Asperger-Syndrom bei sich oder Mitmenschen schöpft?

Ich würde empfehlen, das fachärztlich abklären zu lassen. Für mich war die Diagnose eine Erleichterung und ich konnte das besser einordnen. Oft wird man auch fehldiagnostiziert. Ich wurde lange mit einer Sozialphobie diagnostiziert, was bei mir eigentlich nicht passt, weil ich in gewissen Situationen nicht Angst habe, zu reden und mich deshalb unwohl fühle, sondern weil es einfach nicht geht. Weil oft zu viel geredet wird oder weil ich im Kopf vieles nicht intuitiv mache, sondern so lange nachdenke, sodass es dauert, bis ich auf eine Frage antworte. Ich denke, es kann für viele eine Erleichterung sein, zu wissen, woran es hakt und der Gesellschaft die Diagnose mitteilen zu können. Es kann helfen, zu wissen, dass es krankheitsbedingt ist, wenn man ein bisschen anders tickt und nicht stigmatisiert wird. Also ich denke, die Diagnose könnte für viele eine Erleichterung sein.

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Erhältst du Unterstützung bei deinen Herausforderungen? Welche Angebote waren und sind besonders wertvoll?

Derzeit bin ich in logopädisch-rhetorischer Behandlung bei einer Logopädin, einer Sprecherzieherin. Wir üben bestimmte Situationen im Alltag und besprechen, wie ich das kommunikativ meistern kann. Beispielsweise ist Smalltalk für viele Asperger-Autisten schwierig. Es kann helfen, ein bisschen Unterstützung und Tipps zu bekommen, wie man damit am besten umgeht. Das mache ich schon eine ganze Weile und es hilft mir mehr als eine psychotherapeutische Behandlung.

Mündliche Kommunikation ist oft schwierig. Autisten kommunizieren lieber schriftlich. Nach einer Behandlung schreibe ich meiner Therapeutin oft, was in der Stunde schwierig für mich war und was in mir vorgeht, weil ich dies in der Stunde nicht ansprechen konnte. Es kann helfen, dem Patienten die Möglichkeit zu geben, sein Anliegen und Gedanken auch schriftlich zu äußern.

Wie geht es dir heute?

Es ist schön zu wissen, dass das Kind einen Namen hat und man die Schwierigkeiten einordnen kann. Gewisse Situationen fallen mir nach wie vor schwer, das ist ein lebenslanger Lernprozess. Autismus ist nicht heilbar, aber man kann sich aneignen, wie man in bestimmten Situationen besser zurecht kommt. Ich bin sehr froh, dass ich nicht auf mich allein gestellt bin und ich meinen Mann als Unterstützung habe, der mir im Freizeitbereich in gewissen Situationen kommunikativ hilft. Ohne Unterstützung würde man glaube ich in ein Loch fallen.

Was wünschst du dir für die Zukunft?

Mein Weg war nicht ganz einfach. Ich hoffe, dass Autismus und das Asperger-Syndrom bekannter werden. Anders als zu meiner Zeit in der Schule, gibt es heute einen Nachteilsausgleich, Kinder mit entsprechenden Problemen werden viel besser gefördert. Bei mir wurde da nicht viel gemacht, wenn ich mich in der Schule mündlich nicht richtig beteiligt habe, wurde das knallhart mit 5 bewertet. Heute gibt es die Möglichkeiten, Leistungen schriftlich zu erbringen und die mündliche Beteiligung wird nicht so gewichtet. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft noch ein bisschen fortschrittlicher wird. Sie ist schon fortschrittlicher geworden als zu meiner Zeit. In der Uni gibt es beispielsweise Mentoring oder Peer-Programme. Andere Studierende stehen einem als Mentor zur Seite und helfen in bestimmten Situationen. Es wäre schön gewesen, wenn ich damals so etwas zur Unterstützung gehabt hätte.

Welche grundsätzlichen Tipps kannst du Menschen mit einer ähnlichen Besonderheit geben? Welche Botschaft sollen wir mit der Veröffentlichung dieses Artikels der EnableMe Community vermitteln?

Ich bin seit meiner Diagnose gut damit gefahren, mein Umfeld über die Diagnose zu informieren und offen damit umzugehen, sodass die anderen wissen, warum beispielsweise eine gesellschaftliche Veranstaltung abgesagt wird. Damit meine Abwesenheit nicht als Desinteresse gewertet wird, sondern das Gegenüber weiß, das geht für mich nicht, das ist zu anstrengend und auch verständlich wird, warum es beispielsweise in der Kommunikation dauert oder man in einer Gruppe nur sehr wenig sagt. Das wird dann als selbstverständlicher hingenommen und nicht als Desinteresse oder Unhöflichkeit gewertet. Wenn ich dem Gegenüber keine Gegenfrage stelle, weil es sehr lange dauert, bis mir eine einfällt, könnte man meinen, ich interessiere mich gar nicht für die andere Person. Wenn jeder Bescheid weiß, macht das die Situation für mich entspannter und ich gehe mit weniger Druck in bestimmte Situationen hinein. Mein Tipp ist also ein offener Umgang mit der Diagnose.

Wir bedanken uns bei Sieglinde, die ihre Erfahrungen so offen und ehrlich mit uns geteilt hat! Für ihren weiteren Weg wünschen wir Sieglinde von Herzen alles Gute!


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