Leben mit meiner psychischen Betroffenheit: Interview mit Tobias N.
Tobias N. hat eine Ausbildung zum Experten durch Erfahrung gemacht und teilt seine Erkenntnisse mit Menschen in ähnlichen Lebenslagen. Bei unserem heutigen Interview erzählt er uns von seiner Reise und gibt wertvolle Tipps, wie man sich im Rahmen der individuellen Möglichkeiten einen geregelten Alltag und ein schönes Leben aufbauen kann.
Persönlicher Erfahrungsbericht (EnableMe)
Trigger-Warnung
In diesem Erfahrungsbericht geht es unter anderem um die Themen Mobbing und Suizid. Seien Sie bitte vorsichtig, wenn Sie sich mit diesen Themen unwohl fühlen und lesen Sie den Artikel gegebenenfalls nicht oder nicht alleine. Wenn Sie Hilfe benötigen ist eine erste geeignete Anlaufstelle die kostenlose Telefonseelsorge.
Ich bin Tobias, geboren am 5.9.1967 und lebe seit 2006 in einer akuten Phase meiner psychischen Betroffenheit. Ich bin in zweiter Ehe verheiratet und habe zwei leibliche Kinder. Jedoch hat sich eines meiner Kinder von mir distanziert, weil ich für mein Kind in einer Zeit, wo es mich am meisten gebraucht hätte, nicht da war, weil sich mein Körper in der Zeit massiv gewehrt hat. Heute weiß ich, dass das eine psychisch bedingte Sache war, die leider auch zu Operationen bei mir geführt hat. Heute sehe ich vieles in einem anderen Licht, aber mein Kind nimmt mir das heute noch übel, aber ich muss damit leben. Meine Tochter, mit der ich regen Kontakt habe, hat mich letztes Jahr im März zum Opa gemacht.
Im März vor 10 Jahren habe ich meine Ausbildung bei Ex-In-Deutschland erfolgreich beendet. Ich habe dort meine Ausbildung zum Experten durch Erfahrung gemacht und bin bereit, diese Erfahrungen bzw. meine Hilfe zu jedem Zeitpunkt anzubieten.
Ich bin mit einer körperlichen Behinderung geboren worden, das betraf meine Füße, ich habe ein orthopädisches Problem. Zu der Zeit gab es in der DDR die Vorschrift, dass der Kontakt zu den Eltern verboten ist, wenn Kinder längere Zeit im Krankenhaus liegen. Ich bin mit 6 Monaten ins Krankenhaus gekommen, war dort 1,5 Jahre und habe während dieser Zeit meine Eltern nicht gesehen. Einen Onkel von mir habe ich ab und zu mal gesehen, aber ansonsten hatte ich keinen Kontakt zu meiner Familie. Mein Lebensweg war dadurch immer geprägt.
Ich habe erst in den letzten 10 Jahren erfahren, dass ich Liebe, wie es normale Menschen kennen, nicht empfinden kann, weil mir das Urgefühl dazu fehlt. Ich kann keine Liebe fühlen, Schmetterlinge im Bauch kenne ich nicht. Das ist sehr schwer, auch für meine Frau, das so zu akzeptieren. Ich empfinde schon das Bedürfnis, einem Menschen nahe zu sein, aber ich habe immer Angst. Ich bin süchtig nach Zuneigung und Anerkennung. Ich stufe es für mich selbst als Liebe ein. Ich weiß aber, dass meine Frau oder andere Menschen Liebe ganz anders empfinden, mit Kribbeln im Bauch und Ähnlichem. Das kenne ich nicht. Das ist schwer zu ertragen, aber wir sind jetzt fast 10 Jahre verheiratet und leben damit.
Ich bin in meiner Kinderzeit oft gemobbt worden, ich habe immer darunter gelitten, nicht genug Anerkennung zu bekommen. Viele haben sich darüber lustig gemacht, ich bin ausgegrenzt worden mit dem letztendlichen Ergebnis, dass ich heute ziemlich menschenscheu bin. Einen Spaziergang zu machen, ist für mich eine unheimlich stressige Situation, der ich mich aber aussetze, weil ich weiß, dass ich, wenn ich von mir erzähle, anderen Leuten Mut machen kann. Ich mache es also trotzdem. Heute kann ich mit meiner Erfahrung anderen helfen.
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Ich bin 1984 zur Armee gekommen, wieder mit diesem Hintergrund, von der Gesellschaft anerkannt zu werden. Damals war mir das nicht bewusst, aber heute weiß ich es. Ich bin freiwillig 3 Jahre zur Armee gegangen, habe dann während dieser Zeit auf 10 Jahre aufgestockt und bin dann nach 4,5 Jahren entlassen worden.
Ich habe während meiner Armeezeit meine erste Frau geheiratet. Sie war diejenige, die mein Leben dominiert hat. Es wäre damals fast zum Bruch mit meiner Familie gekommen. Ich wollte schon nach ein paar Jahren weg. Das hat sie jedoch so eingefädelt, dass ich das nicht gemacht habe, weil sie gemerkt hat, dass ich unbedingt einen Partner brauche. Unsere Ehe ist dann im Jahr 2000 geschieden worden.
Ich hatte danach eine andere Partnerin. Zu diesem Zeitpunkt wollten beide Kinder zu mir, was meine Partnerin jedoch nicht wollte, sie wollte mich für sich allein haben, wodurch meine Kinder dann doch zu meiner Ex-Frau gegangen sind. Zu diesem Zeitpunkt fand mein erster fast vollendeter Suizidversuch statt. Ich habe diese Frau dann verlassen und meine Tochter hat mir damals ins Gesicht gesagt: „Papa, du willst nicht weg, du willst dir das Leben nehmen“. Ich habe meiner Tochter dann versprochen, mich innerhalb der nächsten 48h bei ihr zu melden und dieses Versprechen hat mir dort das erste Mal das Leben gerettet. Sonst hätte ich einen Suizid begangen.
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Ich kam dann ab April 2006 in die Reichweite von Psychologen. Das war für mich persönlich erstmal ein Hammer, zu wissen, ich bin psychisch krank. Dort begann der Einstieg in die akute Phase meiner Betroffenheit. Man muss dann im Laufe der aktiven Behandlung immer wieder feststellen, dass es Jahre braucht, bis eine endgültige Diagnose gestellt werden kann. Das hängt damit zusammen, dass die Ärzte nur das beurteilen und verwerten, was man ihnen als Betroffener gibt. Nach diesen Aussagen wird dann eine Diagnose getroffen. Zu Beginn gibt man nur das weiter, was einem nach eigenem Empfinden Schwierigkeiten bereitet. Man sollte als Betroffener aber keine Angst vor der Diagnose haben.
Ich zum Beispiel lebe mit einer exzentrisch schizotypen Persönlichkeitsstörung. Wenn man da im Internet nachguckt, dann schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen. Ich brauche aber diese Diagnose, damit ich meine Medikamente bekomme. In diesem Zusammenhang ist eine richtige Diagnose also sehr wichtig.
Ich lebe jetzt seit 2006 mit Psychopharmaka, die haben mir persönlich sehr geholfen. Ich weiß, dass ich ohne Medikamente nicht zurecht komme. Dann werden meine körperlichen Beschwerden so hoch, dass ich gar nichts mehr machen kann. Das sind die positiven Seiten. Auf der anderen Seite bin ich durch die Langzeiteinnahme von Psychopharmaka zu sexuellen Handlungen kaum noch fähig. Ich kann immer wieder von Glück reden, dass ich meine Frau habe, die das einsieht. Ich weiß ganz genau, ich müsste meine Psychopharmaka absetzen, um da irgendwas zu erleben.
Während ich in der Klinik war, ging meine damalige Beziehung in die Brüche. Ich wusste 4 Wochen vor Entlassung aus der Klinik nicht, wo ich hinkomme. Eine Mitpatientin hat gesagt, sie hätte eine Wohnung für mich, dort könnte ich einziehen. Ich bin damals dann in diese Wohnung eingezogen, 35 Quadratmeter groß. Ich hatte in der Wohnung eine Glühbirne, ein Bett, ein Radio, eine Couchgarnitur und eine Kerze, die sie mir mitgegeben hat. Als ich 14 Tage allein in dieser Wohnung lebte, ist mir die Decke auf den Kopf gefallen und dann habe ich gesagt, ich bringe mich um. Ich hatte noch Medikamente im Haus und habe noch eine Abschieds-SMS an meine damalige Ex-Partnerin geschrieben und bin dann im Aquarium wieder zu mir gekommen. Als psychisch-krank-Betroffener versteht man unter einem Aquarium einen Raum, wo man ständig überwacht wird. Man sitzt hinter Glasscheiben und wird ständig beobachtet. Unter psychisch Betroffenen hat sich der Begriff Aquarium etabliert. Ich war 72h fixiert. Ich kenne also in der Beziehung die Psychiatrie ziemlich genau.
Danach habe ich eine Betreuerin vom betreuten Wohnen bekommen. Wir verstanden uns sehr gut. Heute ist sie meine Frau. Für mich ist sie der Mensch, dem ich zu verdanken habe, dass ich wieder leben will. Ohne sie wäre es nicht gegangen. Hätte ich diese Frau nicht gehabt, wäre ich wieder abgestürzt. Meine Frau hat mich auf dem gesamten Weg unterstützt und weiß mit mir umzugehen und das auf eine sehr liebenswürdige Weise. Sie weiß auch, dass ich Liebe ganz anders empfinde. Sie weiß, dass ich eine extreme Kreativität besitze, die in Bahnen gelenkt werden muss. Sie weiß, dass ich meine Ruhe-Phasen brauche, in denen ich allein bin. Sie weiß, dass ich am liebsten allein arbeite. Ich mag ungerne Hilfe annehmen und kümmere mich am liebsten allein um mich.
Psychisch krank zu sein bedeutet in der heutigen Zeit leider immer noch ein Stigma. Man wird ausgegrenzt, ob man will oder nicht, bzw. oft belächelt. Ich bin ein Mensch, der sagt, das muss in die Öffentlichkeit. Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, sage ich schnell, was mit mir los ist. Wenn jemand damit ein Problem hat, soll er es mir ins Gesicht sagen, ich kann damit leben, aber nicht hintenrum, das möchte ich nicht. Dieses Verstecken ist für mich das Schlimme.
Mir geht es heute den Umständen entsprechend gut. Ich habe einen strukturierten Tagesablauf, der ganz wichtig ist. Das rate ich auch Betroffenen, sich einen konstanten Tagesablauf zu machen und den einzuhalten, weil uns das oft schwerfällt. Der zweite Punkt ist: Nehmt eure Medikamente, wenn ihr sie benötigt. Auch wenn es euch gut geht, können die Medikamente der Grund dafür sein.
Der nächste Punkt ist, vertraut den Menschen, die mit euch zusammenleben, die von eurer Krankheit wissen. Sagt, ich bin psychisch betroffen, nicht psychisch krank, das ist weniger ausgrenzend. Betroffen deswegen, weil man kein Computer ist. Man kann negative Erfahrungen nicht einfach auslöschen, wie man das auf einer Festplatte macht.
Wenn man mich fragen würde, was ich machen würde, wenn ich das Leben nochmal neu starten könnte, dann würde ich antworten, ich würde alles nochmal genauso haben wollen, wie es bisher war, mit allen Höhen und Tiefen. Einfach, weil mich das zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin und ich bin sehr dankbar dafür.
Man sollte seine Bedürfnisse nicht hinten anstellen. Das machen viele Menschen, die Angst haben, keine Anerkennung mehr zu bekommen. Man sollte seine Bedürfnisse klar äußern. Wem das schwer fällt, dem kann ich immer nur raten: Sucht euch professionelle Hilfe. Reden ist wichtig! Nichts ist schlimmer als Schweigen und Einstecken, das macht uns krank. Daher ist es so wichtig, dass man sich bewusst wird und mitteilt, was einem gut tut und was weniger gut tut.
Ich habe viel erlebt und bereits Erfahrungen in der Psychiatrie, einer Tagesklinik und einer geschützten Werkstatt gemacht. Dort konnte ich testen, wie belastbar ich in bestimmten Situationen noch bin. Heute bin ich eine Art Hausmann, das heißt, ich kümmere mich darum, dass das Haus in Ordnung gehalten wird, ich kümmere mich um den Garten. Wir haben einige Tiere, die wir versorgen müssen. Ich mache viel im Haushalt. Meine Rente ist nicht so hoch, dass ich mein Hobby finanzieren kann. Meine Frau meinte dann: “Such dir doch eine Arbeit, die dir liegt. Du läufst doch so gerne, geh doch Zeitung austragen“. Und ich gehe jetzt jeden Freitag 18 km Zeitung austragen. Mit diesem Geld finanziere ich mein Hobby Modelleisenbahn bauen. Ich habe eine große Anlage, dort ist immer etwas zu tun. Dort kann ich auch meinen Drang, kreativ zu sein, vernünftig ausleben.
Wir haben einen großen Garten und meine Schwiegereltern waren in der DDR-Zeit Selbstversorger. Die haben viel angebaut und viel Ackerfläche gehabt. Das wollten wir nicht mehr, weil es uns einfach zu viel war, und da haben wir innerhalb von 2 Jahren den kompletten Garten umgestaltet. Mir hilft dieses ständige Umgestalten oder Neugestalten, mit meiner Kreativität auszukommen, die mich stellenweise sehr belastet. Wenn man ständig den Drang hat, etwas umzugestalten, sollte man bei sich selbst hinterfragen, ob das nicht irgendeine Ursache hat.
Ich bin unglaublich gerne draußen. Ich gehe jeden Tag mit meinen zwei kleinen Hunden spazieren, mindestens 1 Stunde zwischen 5 und 6 km. Egal welches Wetter, wir gehen raus. Dadurch habe ich eine Tagesstruktur.
Meine Frau ist mittlerweile selbst Betroffene, aber sie geht noch normal arbeiten, zwar nicht mehr Vollzeit, aber sie arbeitet noch. Wenn sie nach Hause kommt, höre ich ab dem Zeitpunkt mit meinem Hobby auf, dann möchte ich Zeit mit ihr verbringen. Es sei denn, sie sagt, sie möchte allein sein, dann kann ich immer an die Eisenbahn gehen, dort habe ich immer Arbeit.
Für meine Zukunft möchte ich, dass wir das aushalten können und dass ich noch viele schöne Jahre mit meiner Frau habe. Und, dass ich weiterhin Menschen helfen kann, die psychisch betroffen sind.
Ich kann nur jedem sagen, nennt euch nicht psychisch krank. Die Krankheit ist irgendwann heilbar. Mit einer psychischen Betroffenheit lernt man irgendwann umzugehen. Rückschläge gehören dazu. Es ist nicht jeden Tag rosig. Ich habe auch oft Tage, an denen ich mich nicht gut fühle, oder wo ich mich zurückziehen möchte und nicht nach außen will. Ich lebe dann damit. Ich weiß, dass ich an solchen Tagen Zeit brauche, um wieder klarzukommen, um wieder aufzustehen.
Versucht, Stück für Stück im Laufe der Zeit eure Freiheiten wiederzubekommen. Ich habe fast 5 Jahre lang nicht Autofahren dürfen. Ich war ständig von anderen abhängig. Irgendwann hat meine Frau gesagt: „Tobias, komm, ich habe hier noch ein Auto stehen. Rede mit deinem Psychiater, ob du wieder Autofahren darfst. Ich merke, du brauchst das“. Ich habe es geschafft, ich darf trotz Psychopharmaka Autofahren. Ich muss zwar immer einen Nachweis mitführen und darf keine langen Strecken fahren, aber ich habe zumindest dieses Stückchen Freiheit wiedererlangt.
Das Nächste, wo ich versuche, Betroffenen zu helfen, ist, dass ich sage: „Seht den Begriff Krankheit anders“. Normalerweise gilt laut WHO jemand als krank, der seinen normalen Alltag mit Arbeit und Drum und Dran nicht mehr meistern kann. Ich sage, ich bin gesund. Ich nehme zwar Medikamente, aber es gibt keinen 100% Gesunden und keinen 100% Kranken. Wer 100% krank ist, ist tot, also befinde ich mich irgendwo dazwischen. Also sage ich, ich bin gesund und ich muss, um das zu bleiben, meine Medikamente nehmen. Ich muss mit gewissen Einschränkungen klarkommen. Ich bin aber für mich selbst gesund. Ich bin psychisch betroffen, aber ansonsten gesund. Durch meine psychische Betroffenheit bin ich nicht krank. Wer das für sich bedenkt, wird merken, dass er ein Stückchen Freiheit gewonnen hat.
Auf die Frage „Geht es dir gut?" wird häufig gelogen. Ich empfehle, hier nicht zu lügen und auch mal zu sagen „Nein, mir geht es schlecht“. Die meisten Menschen gegenüber wenden sich zu dem Zeitpunkt ab. Aber jemand, der wirklich Interesse an dir hat, wird da bleiben und fragen „Warum geht es dir nicht gut? Kann ich dir helfen?" Alle anderen wollten nur ein Gespräch anfangen. Hier trennt sich schnell die Spreu vom Weizen und man hat ein ehrliches Gegenüber, das auch dazu bereit ist, sich auf Augenhöhe mit einem zu unterhalten.
Wir sind nicht krank, wir sind betroffen!
Mir ist noch wichtig zu erwähnen: Ratschläge sind Schläge. Wenn man einen Schlag bekommt, tut das immer weh. Ich sage deswegen, ich gebe Hinweise und meine Erfahrungen weiter. Ich gebe keine Ratschläge, weil ich weiß, dass Ratschläge manchmal verdammt wehtun. Ich erzähle, was mir geholfen hat, aber ich werde nie jemandem sagen, was er tun soll.