Leben mit Amputation – Interview mit Victor R.
Victor R. erzählt im Interview: Es war nie ein „Spaziergang“, brauchte „Biss“, viel harte Arbeit. Dennoch hat er beruflich im Leben alles erreicht, was er wollte.
Katharina ist nach ihrem Gehörverlust Dozentin für die deutsche Gebärdensprache (Hendrike Zahour)
Sie liegt fünfzig Jahre zurück.
Ich war vier Jahre alt.
Mein rechtes Bein war bei der Geburt nicht richtig ausgebildet. Es wurde oberhalb des Knies amputiert.
Meine medizinische Behandlung fand in einer Spezialklinik für Orthopädie in der Schweiz statt. Es fand bei mir (auch später) keine spezielle berufliche oder soziale Rehabilitation statt. An allen Schulen die ich besucht habe, war ich zusammen mit nichtbehinderten Menschen. Ich war sozusagen „voll“ integriert. Einzig vom Turnunterricht war ich damals dispensiert. Das ist heutzutage natürlich anders.
Insgesamt sehr positiv. Ich habe mich nur in wenigen Situationen als „behindert“ gefühlt. Das Glück war, dass sich meine Eltern und die Lehrpersonen sehr gut auf mich eingestellt haben: Ich wurde behandelt wie alle anderen Mitschüler.
Nein.
Ist nach meiner Auffassung nicht notwendig.
Als Geburtsbehinderter war die Lebensphase der Pubertät für mich sehr prägend. In dieser Zeit hat eine intensive Auseinandersetzung mit der Behinderung stattgefunden. Werde ich als behinderter Mensch akzeptiert? Finde ich eine Freundin? Werde ich als behinderter Mensch im Beruf akzeptiert?
Diese Fragen und die Antworten dazu waren für mich sehr wichtig. In dieser Zeit habe ich meine erste richtige Lebenskrise bewältigen müssen. Eine harte Zeit, doch auch eine Zeit der Reife. Ich habe mich selbst finden müssen, meine eigene Identität. Ich denke, ein Stück weit durchläuft das jeder Mensch zwischen 14 und 20. Als behinderter Mensch habe ich das wahrscheinlich noch intensiver „durchlebt“, mit allen Höhen und Tiefen.
Mein Freundeskreis hat sich - wegen meiner Geburtsbehinderung - von Anfang an vermutlich anders zusammengesetzt als bei anderen Menschen. Das hat mit den Interessen zu tun. „Sinnfragen“ standen für mich in der Jugendzeit immer im Vordergrund: Was ist der Sinn des Lebens? Was kann ich als behinderter Mensch zum Leben beitragen?
In meinen schwierigsten Zeiten durfte ich immer auf gute Freunde zählen. Sie haben mich begleitet, unterstützt und ich habe ihnen wieder durch meine Art etwas zurückgeben können.
Als Geburtsbehinderter kenne ich nur die eine Form von Partnerschaft, nämlich jene mit Behinderung. Ich hatte nie den Eindruck, dass mich die Behinderung in irgendeiner Weise beeinträchtigt. Im Gegenteil, Behinderung kann auch positive Auseinandersetzung außerhalb der „Norm“ fördern!
Ich habe von Anfang an gewusst, was mit der Oberschenkelamputation möglich ist und was nicht. Ich habe mich nie in der Berufswahl eingeschränkt gefühlt und denke, es ist eine Frage der inneren Einstellung. Wer positiv denkt, sich fokussiert, sprich klare Ziele setzt, erreicht meist auch das, was er möchte. Rückblickend kann ich sagen, dass ich beruflich in meinem Leben alles erreicht habe, was ich wollte.
Es war nie ein „Spaziergang“, brauchte „Biss“, viel harte Arbeit. Mit den kleinen Erfolgen kommen auch das Selbstvertrauen und die Zuversicht. Für mich war immer klar: Ich muss mein Leben selbst in die Hand nehmen, ich bin selbst dafür verantwortlich.
Als Oberschenkelamputierter hat man Grenzen. Ich habe nie gefragt, was ist nicht möglich, sondern immer gesucht, was möglich ist!
Ich suche nicht bewusst den Kontakt zu Menschen mit Amputation. Wenn sich ein Kontakt ergibt, so ergibt er sich so, wie zu anderen Menschen.
Ich bin seit langem in einem Behindertenverband dabei. Früher habe ich auch aktiv Funktionen ausgeübt. Momentan ist mir das aus beruflichen Gründen nicht möglich.
Es hilft mir, aktuelle Probleme behinderter Menschen nachzuvollziehen. Außerdem weiß ich so auch, was politisch in sozialen Fragen läuft.
Aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit (Beratung und Schulung) habe ich tendenziell zu wenig körperliche Bewegung. Das Thema Gewicht muss deshalb immer beachtet werden. Nach fünfzig Jahren Oberschenkelamputation merke ich, dass das „gesunde Bein“ durch die stärkere Belastung Abnutzungserscheinungen aufweist. Im Moment helfe ich mir mit alternativer/komplementärmedizinischer Medizin, um meinen Körper „stabil“ zu halten. Ich bin mir jedoch bewusst, dass irgendwann Probleme mit Hüft- und Kniegelenk auftreten werden, mal schauen...
Hitze ist immer ein Problem für einen amputierten Menschen. Da muss man sich darauf einstellen. Ansonsten schaue ich darauf, dass ich den orthopädischen Entwicklungen entsprechende Prothesen trage. Da fordere ich meinen Orthopäden auch etwas heraus.
Sich informieren, was an neuen Entwicklungen läuft!
Die körperlichen Einschränkungen, auf die man sich einfach einstellen muss.
Rückblickend auf mein bisheriges Leben betrachtet, erachte ich meine Behinderung insgesamt als Gewinn für mich persönlich. Ich wäre heute ein anderer Mensch ohne Behinderung. Und mir ist es wohl, so wie ich jetzt bin.
Eine Behinderung ist ein starker Einschnitt ins Leben. Sie bietet auch Chancen für eine persönliche Standortbestimmung und vielleicht auch einen Neuanfang. Die große Lebenskunst liegt in der Aussage des Philosophen Karl Jaspers: Das Beste liegt nie hinter uns, sondern immer vor uns.
Oder vereinfacht ausgedrückt: Sieh nie das halbleere Glas, sondern immer das halbvolle.