Fünf bewegende Geschichten paralympischer Athlet*innen
Atemberaubende Leistungen, Menschlichkeit und Vielfalt – die paralympischen Spiele begeistern immer wieder. Hinter den sportlichen Leistungen der Athleten und Athletinnen, stehen meist harte Arbeit, Ausdauer und der Einsatz für Inklusion.
Mathias Mester bei den Paralympics in Rio de Janeiro (Brasilien) (Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de)
Die Anzahl der Athleten und Athletinnen, die bisher an den paralympischen Spielen teilgenommen haben, ist gigantisch und wächst immer weiter. Bei den Stoke Mandville Games 1948, dem Ursprungs-Event der Paralympics, nahmen 14 Menschen teil. 1994 bei den Winterspielen in Norwegen treten 1000 Athlet*innen an. Bei den paralympischen Spielen 2020 in Tokio haben 4500 Athleten und Athletinnen teilgenommen. Jeder, der jemals an den paralympischen Spielen teilgenommen hat, hat seine eigene Geschichte. Denn um an den Wettkämpfen teilzunehmen musste jeder von ihnen Grenzen durchbrechen und oft für Inklusion kämpfen. Wir haben fünf Geschichten paralympischer Teilnehmer*innen für Sie herausgesucht.
Henry Wanyoike
Der Kenianer, der in einem Slum in der Nähe von Nairobi geboren ist, erblindet mit 21 über Nacht. Sein Traum vom Laufen scheint geplatzt zu sein und es dauert drei Jahre, bis er seine Lage akzeptieren kann. In dieser Zeit hilft ihm auch ein Rehabilitationszentrum, in dem er Möglichkeiten erkennt und seine Unabhängigkeit, sowie das Stricken erlernt. Nach der Gründung eines Geschäfts mit selbstgestrickten Kleidungsstücken kehrt er schließlich zum Laufen zurück. Henry Wanyoike wird 2000 in Sydney bekannt. Bei einem Lauf von 5000 Meter bekommt sein Führungsläufer auf den letzten Metern einen Schwächeanfall. Die Zuschauer leiten Henry Wanyoike durch Zurufe ins Ziel und somit auf den Podiumsplatz der Goldmedaille. An diesem Tag und bei vielen weiteren Läufen stellt Wanyoike Weltrekorde auf.
Der Kenianer wohnt mit seiner Familie in der Nähe von Nairobi. In einem Interview sagt Wanyoike „Ich habe zwar mein Augenlicht verloren, aber nicht meine Vision. (…) Ich möchte den Benachteiligten in der Gesellschaft Hoffnung und Chancen geben und suche immer nach neuen Wegen. Auch wenn ich selbst nicht viel habe – wenn ich meinen Schweiß und meine Energie einsetzen kann und damit Zeichen setze, dann fühle ich mich gut.“ Wanyoike setzt sich international und insbesondere in Kenia in vielen Projekten für Benachteiligte ein. Er unterstützt Nachwuchsläufer*innen mit Behinderung, ist Botschafter der Christoffel-Blindenmission und hat eine Stiftung gegründet, die unteranderem Schulen für Kinder aus armen Verhältnissen mitfinanziert.
Tanja Kari
Die Ski-Langläuferin aus Finnland hat in ihrer Sport-Karriere von 1992-2002 viele Medaillen gewonnen – darunter einmal Bronze und sechsmal Gold. Wegen ihrer Erfolge wird sie 2010 in die Paralympic Hall of Fame aufgenommen. Neben ihrer Sportkarriere studierte sie in Finnland Sporterziehung und Sportwissenschaften. In mehreren Forschungs- und Entwicklungsteams setzt sie ihr Wissen dafür ein, unabhängigen Sport für Menschen mit Behinderung möglich zu machen. „Wir haben sehr früh erkannt, dass nur eine bestimmte Menge an adaptiven Geräten zur Verfügung steht und dass diese Geräte in der Regel denjenigen zur Verfügung stehen, die die wenigsten Einschränkungen haben.“ So hat sie an der Universität in Utah auch an der Entwicklung des Tetra-Skis mitgewirkt. Tetra-Ski ermöglicht Menschen, die kaum oder keine Armfunktion haben, unabhängig Wintersport zu treiben. Die Skier des Sportgeräts, und somit die Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit, sind über ein Luftrohr mit dem Mund steuerbar. Wer weiß – vielleicht kommt Tetra-Ski bald bei den paralympischen Winterspielen zum Einsatz.
Markus Rehm
Der deutsche Prothesentechniker und Weitspringer Markus Rehm verlor 2003 bei einem Wakeboard Unfall sein rechtes Bein. Von Anfang an war klar – das wird ihn nicht vom Sport abhalten. Den Sommer nach der Amputation fährt er wieder Wakeboard und probiert sich in anderen Sportarten. Eines Tages fragt ihn jemand aus seinem Sportclub, warum er kein Leichtathletik mache. Markus Rehm antwortet, dass er sehr gerne Leichtathletik machen würde, aber keine Laufprothese, ein sogenanntes Blade, habe. Am selben Abend bekommt er eine solche Prothese geschenkt. Rehm möchte das wertvolle Geschenk zunächst nicht annehmen, doch der Trainer besteht mit den Worten „Das ist eine Investition in deine Zukunft“ darauf. Eine Investition, die sich gelohnt hat. Heute ist Markus Rehm unter dem Spitznamen „Blade-Jumper“ weltbekannt und Weltrekordhalter. Bei den paralympischen Spielen hat er bereits dreimal Gold im Weitsprung erzielt.
In einem Interview verrät er seine Gedanken kurz vor seinem Weltrekordsprung in Doha. Er denkt an einen Jungen, den er durch seine Arbeit als Prothesenhersteller kennengelernt hat. „Ich dachte an den kleinen Jungen. Seine Eltern erzählten mir mal, dass er ein großer Fan ist. Und ich dachte nur: ich möchte ein gutes Vorbild sein.“ Als er den Jungen in Deutschland wieder sieht begrüßt dieser ihn mit den Worten „Ich bin so stolz auf dich“. Doch nicht alle gönnen Markus Rehm den Erfolg und es kommen Diskussionen auf, ob die Prothese ihm einen Vorteil verschafft. Aus diesen Gründen darf Rehm auch nicht an der Olympiade teilnehmen. Mit einer Teilnahme an der Olympiade möchte Markus Rehm auf die Paralympics aufmerksam machen. Seine Vision ist, dass die beiden Veranstaltungen näher zusammen kommen – beispielsweise durch inklusive Wettkämpfe zwischen den beiden Events.
Tatyana McFadden
Tatyana McFadden ist in Leningrad auf die Welt gekommen. Durch eine Fehlbildung des Rückenmarks, ist sie von der Hüfte abwärts gelähmt. Da sie in eine arme Familie geboren wird, die sich keine Operationen leisten kann, wird Tatyana in die Obhut eines Waisenhauses gegeben. Dort ist sie das einzige Kind mit einer Behinderung und sie bewegt sich viel auf ihren Händen fort – einen Rollstuhl gibt es nicht. Mit sechs Jahren soll sie in ein Waisenhaus für Erwachsene gebracht werden, doch das Waisenhaus entscheidet sich sie noch etwas länger zu behalten. So kam es, dass sie kurz darauf ihre Adoptivmutter kennenlernte. „Es war Liebe auf den ersten Blick und hat mein Leben für immer verändert.“ Ihr Leben geht mit Rollstuhl in Amerika weiter. In der Schule setzt sie sich dafür ein, normal am Sportunterricht teilnehmen zu können, was kein einfacher Kampf ist. Sie beginnt mit Radsport und nimmt 2004 das erste Mal bei den paralympischen Spielen teil. Da wird ihr klar: Sie will erfolgreich werden, denn so bekommt sie eine Stimme und kann etwas verändern. Und sie wird erfolgreich. Im Radsport gewinnt sie bei Kurzstrecken, Langstrecken, der Staffel und dem Marathon mehrere Medaillen.
Als sie erfährt, dass die Winterspiele 2014 in Sotschi, Russland sind, verspürt sie den Drang zum ersten Mal auch an den paralympischen Winterspielen teilzunehmen. Das Training ist hart und viele raten ihr bei der Sommer-Disziplin zu bleiben, doch Tatyana trainiert weiter im Ski-Langlauf. Sie gewinnt eine Silbermedaille. Unter den Zuschauern ist auch ihre leibliche Familie, die eine russische und eine amerikanische Flagge schwenken. „Es hat mich so gefreut sie (meine Mutter) wiederzusehen. Sie schien sehr erleichtert. (…) Sie war immer in Sorge um mich. Als sie mich so sah fiel eine Riesen Last von ihr.“ McFadden setzt sich in vielen Projekten zur Inklusion ein und ist auch in der Netflix-Dokumentation „Der Phoenix aus der Asche“ zu sehen.
Ibrahim AlHussein
Im Jahr 2020 nahmen Athleten und Athletinnen aus 160 verschiedenen Ländern an den paralympischen Spielen teil. Zum ersten Mal trat auch ein Team aus Flüchtlingen an – das Refugee Paralympic Team. Teil des Teams ist auch der Schwimmer Ibrahim alHussein, der bereits 2016 als unabhängiger Teilnehmer bei den Paralympics teilgenommen hat. Im Krieg in Syrien wurde er bei einem Raketenangriff schwer am rechten Bein verletzt. Er kam in ein Krankenhaus, wo festgestellt wurde, dass sein Bein amputiert werden muss. Die Lage in Syrien führte dazu, dass er am Tag der Operation aus dem Krankenhaus entlassen wurde und schwer an eine gute medizinische Versorgung kam. Daher flüchtete er über die Türkei nach Griechenland, wo er nach einer Zeit wieder mit seiner Leidenschaft, dem Schwimmen, beginnt –bereits als Jugendlicher hat er in dieser Disziplin an Wettkämpfen in Syrien teilgenommen. Er trainiert, bis seine Zeit nur drei Sekunden langsamer als seine Bestzeit vor der Amputation ist. 2016 nimmt er dann das erste Mal an den Paralympischen Spielen teil. „Nachdem ich von einem Athlet zu einem Para-Athlet geworden bin, wollte ich sicher gehen (…) eine Botschaft zu übermitteln: Verweile nicht bei deiner Einschränkung. Schreite deinen Weg als Athlet fort und lebe dein Leben als gäbe es keinen Unterschied.“
Ibrahim AlHussein sieht seine Rolle als Repräsentant von Millionen von Menschen, die wegen Konflikten und Verfolgungen fliehen müssen. Aktiv unterstützt er auch Nachwuchsathleten – Flüchtlinge mit einer Behinderung. „Vielleicht bekomme ich keine Medaille, aber ich kann mehr als das erreichen. Ich kann eine Generation von Para-Athleten unterstützen und dabei helfen Flüchtlingen mit Behinderungen auf den richtigen Weg im Sport zu führen.“ Bei den Wettkämpfen in der Disziplin Para-Schwimmen erzielt er keinen Podiumsplatz – eine Medaille bekommt Ibrahim AlHussein dennoch. Die weltweit höchste Auszeichnung für einen Athleten mit Behinderung – den Whang Youn Dai Achievement Award 2020. Dieser wird bei den paralympischen Spielen jeweils an einen Athleten und an eine Athletin vergeben, die den Geist des Behindertensports besonders gut repräsentieren.