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Erfahrungsbericht: Beantragung eines Hilfsmittels mit Herz

Langstöcke für blinde und sehbehinderte Menschen haben Grenzen. Grenzen, die ein anderes Hilfsmittel überwinden kann: ein Blindenführhund. Vorausgesetzt wird hierfür, dass die Person mindestens hochgradig sehbehindert ist und in der Lage ist, den Hund zu versorgen. Hierfür ist auch ein abgeschlossenes Mobilitätstraining erforderlich. Ein Blindenführhund ist ein lebendiges Hilfsmittel.

Eine Sprechblase und ein Mikrophon, dazwischen der Schriftzug Persönliche Erfahrungsberichte, auf dunkelblauem Hintergrund. | © EnableMe

Persönlicher Erfahrungsbericht (EnableMe)

Im November 2011 schwand rasch meine Sehfähigkeit und ich galt bereits einige Monate später, mit einem Visus von Handbewegung, als blind. Dies war der Grund dafür, dass ich (stockundstein.org) bereits im August 2012 eine Schulung in Orientierung und Mobilität (O&M) absolvierte. Es sollte mir ermöglichen, mich wieder selbständig und selbstbestimmt im Alltag zu bewegen und meine Teilhabe zu erhalten. Damals war ich 17 Jahre alt und lebte noch bei meinen Eltern. Meine Lebenssituation hat sich seitdem geändert. Ich lebe 150 Kilometer von meinen Eltern entfernt, bin durch mein Hobby viel unterwegs, bin berufstätig und habe meine Alltagsaufgaben. Jedoch stoße ich mit meinem Langstock immer wieder an Grenzen. Dies war der Grund, warum ich 2021 einen Antrag auf Versorgung mit einem Blindenführhund beantragte. Ich erfüllte alle Voraussetzungen, denn ich habe ein Mobilitätstraining absolviert, bin blind und habe sogar schon Erfahrungen mit Hunden.

Was ist ein Blindenführhund?

Der Blindenführhund ist ein Hilfsmittel, das laut §33 SGB V ein erforderliches Hilfsmittel zum unmittelbaren Behinderungsausgleich ist. Ein Hilfsmittel wird dann als erforderlich eingeordnet, wenn der Einsatz des Hilfsmittels im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird. Der Hilfsmittelkatalog des GK- Spitzenverbandes gibt eine Orientierung, welche Anforderungen an Blindenführhunde gekoppelt sind.

Blindenführhunde wachsen entweder bei dem*der Trainer*in auf oder in einer Familie, die sich ein Jahr lang um den Hund kümmert und ihn nach gewissen Anforderungen trainiert. Auch möglich ist es, das der Hund direkt bei der antragsstellenden Person aufwächst. Die Schulterhöhe sollte zwischen 50-70 Zentimeter betragen. Führhundhalter*in und Hund sollten charakterlich zueinander passen. Blindenführhunde werden aus Zuchten genommen. Ihre Herkunft muss nachgewiesen werden können. Daher eignen sich Hunde aus dem Tierheim oder Tierschutz nicht.

Anforderungen an den zukünftigen Blindenführhund:

  • Gesund
  • Friedfertig
  • Intelligent
  • Wesensfest
  • Nervenstark
  • Arbeitsbelastbar
  • gut sozialisiert
  • hohe Frustrationstoleranzgrenze
  • geringer emotionale Erregbarkeit
  • wenig territorial
  • nicht sozial expansiv
  • kaum jagdlich interessiert
  • nicht schreckhaft

Folgende Rassen werden ausgewählt, da sie eine optimale Größe haben und ihr Wesen zumeist passend ist:

  • Golden Retriever
  • Labrador Retriever
  • Deutsche Schäferhunde
  • Labradoodles
  • Riesenschnauzer
  • Großpudel
  • Collies
  • Australien Shepherds
  • Elo

Die Ausbildung zum Blindenführhund dauert ca. sechs bis neun Monate.

Was kann ein Blindenführhund?

Im Hilfsmittelverzeichnis finden Sie auch die Anforderungen an die Führhundausbildung und damit die Aufgaben, die ein Hund leisten können soll. Ein Blindenführhund soll:

  • Orientierung und Mobilität bieten
  • Vor eventuell auftretenden Gefahren warnen (z. B. durch Stehenbleiben) und schützen (z. B. durch Querstellen)
  • Intelligenter Ungehorsam: Widersetzen des Hörzeichens
  • Vor Verkehrsmitteln, Treppen, Türen oder Hindernissen (auch auf Kopfhöhe) warnen
  • Fahrbahnübergänge, Bordsteinkanten, freie Sitzgelegenheiten, Ein- und Ausgänge, Fahrstühle, Treppen, Ampeln, Haltestellen oder Briefkästen aufsuchen

Antrag Blindenführhund: Die Schule

In einem Gespräch mit der Blindenführhundschule werden verschiedene Fragen zu der persönlichen Situation gestellt, z.B.:

  • Mobilität
  • Persönlichkeit
  • Lebensstil

Ist es nun so weit und der Blindenführhund kann in sein zu Hause einziehen, so wird eine ca. drei-Wöchige Einarbeitungszeit mit einer anschließenden Gespannprüfung absolviert. Erst dann gilt man als zertifiziertes Führgespann.

Aber auch die Arbeitszeit eines Blindenführhundes hat ein Ende. Ca. nach 7-10 Jahren geht ein Blindenführhund in Rente. Sie sollten sich vorher überlegen, ob der Hund die Rente bei Ihnen verbringen kann oder abgegeben werden muss. Auch  den Antrag auf einen neuen Blindenführhund sollten Sie rechtzeitig stellen.

Der Blindenführhund: Umgang und Nebeneffekte

Einem Blindenführhund vertraut die blinde oder hochgradig sehbehinderte Person das eigene Leben an. Während ihrer Arbeit sind sie hoch konzentriert und dürfen auf keinen Fall abgelenkt werden. Hunde sind zwar süß, wenn Sie einen Bindenhund sehen unterlassen Sie jedoch bitte folgende Handlungen um den Hund nicht in seiner Arbeit zu stören:

  • streicheln
  • füttern
  • pfeifen
  • ansprechen
  • Hundekontakt

Ein positiver Nebeneffekt von Blindenführhunden ist ihr positiver Effekt auf die mentale Gesundheit. Sie geben Sicherheit und reduzieren Stress. Reduzierter Stress hat letztendlich positive Auswirkungen auf die Gesundheit des Herzens. Ebenfalls können nachweislich Ängste, Depressionen und Einsamkeit reduziert werden. Vor allem gehen blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen mit einem Blindenführhund häufiger raus. Dies bedeutet mehr Bewegung und ist ebenfalls ein positiver Nebeneffekt.

Nadine sitzt neben einem schwarzen Großpudel auf einer Wiese und lächelt in die Kamera. | © Nadine Rokstein Nadine und Blindenführhund Henry (Nadine Rokstein)

Der Antragsweg zum Blindenführhund

Wie hart dieser Weg werden würde, konnte ich nicht ahnen. Anfang 2021 habe ich mich an verschiedenen Stellen beraten lassen und Informationen gesammelt. Zusätzlich war ich selbst Beraterin und hatte selbst genug Informationen und Zugänge zu diesen. Von meinem Augenarzt habe ich eine Verordnung für einen Blindenführhund mit Führgeschirr erhalten. Ich habe anschließend bei Blindenführhundschulen angerufen. Zu dieser Zeit war jedoch Corona und das Interesse an Welpen stieg, so dass die Schulen keine Hunde zur Ausbildung zur Verfügung hatten. Jedoch fand ich eine Schule, bei der mein Bauchgefühl „Ja“ schrie. Ich erhielt einen Kostenvoranschlag. Danach ging ich zu einer Allergologin und ließ mir bescheinigen, dass ich keine Hundehaarallergie habe. Hierauf folgte noch eine Bescheinigung von meiner Hausärztin und meinem Augenarzt darüber, dass ich in der Lage bin, einen Blindenführhund zu halten. Für mich erstellte ich eine Liste mit Begründungen, die bei einem Telefonat abgefragt werden würden:

  • Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Teilhabe
  • Eingeschränkte Mobilität in fremder Umgebung
  • Hindernisse auf Kopfhöhe (Äste, LKW mit herablassender Hebebühne, Fahrradlenker, Spiegel von LKWs Schilder)
  • Flächen ohne Orientierungsmöglichkeiten wie große Plätze
  • Durch vermehrte Reisen: Aufsuchen von Haltestellen, Treppen, Aufzüge etc.
  • Erschwertes zielgerichtetes Laufen in Menschenmengen
  • Barrieren wie Baustellen, Sperrmüll, versperrten Wege erfordern das Suchen neuer Wege
  • Witterungsverhältnisse Erschweren das Laufen mit Langstock

Für meine absolvierte Schulung in Orientierung und Mobilität hatte ich leider nur einen Zwischenbericht erhalten. Ich sendete diesen mit. Langstöcke erhielt ich jedoch über die Krankenkasse und seit 2012 bin ich aufgrund meiner Blindheit täglich mit dem Langstock unterwegs. Jedoch gab es 2017 einen Krankenkassenwechsel, da ich selbst berufstätig wurde und ich aus der Familienversicherung ausgetreten bin. Ich fühlte mich dennoch gut vorbereitet.

Die Ablehnungen

Am 07.04.2021 erhielt ich von meiner Krankenkasse eine Ablehnung. Vorrangig sahen sie die Notwendigkeit einer Schulung in O&M. Ich wollte den Weg nicht alleine gehen und setzte mich mit der RbM (Rechte behinderter Menschen – Rechtsberatung) in Verbindung. So wurde am 20.04.21 Widerspruch eingelegt. Hierdurch wurde mir mitgeteilt, dass am 12.07.2021 der medizinische Dienst prüfen würde, ob die Voraussetzungen für die Versorgung gegeben sein würden. Hieran musste die Krankenkasse den medizinischen Dienst am 7. September nochmals erinnern. Eine Überprüfung fand jedoch nicht persönlich, sondern nur nach Aktenlage statt. Nach dieser „intensiven Auseinandersetzung mit meiner gesundheitlichen Situation“ bekam ich am 6. Oktober die Mitteilung, dass vorrangig eine Schulung in O&M zu absolvieren wäre. Auch sei das Training zu lange her. Den Widerspruch ließ ich bestehen, da ich die Voraussetzungen als gegeben sah. Und eine Versorgung wollte. So ging der Widerspruch an den Widerspruchsausschuss.

Ich erhielt am 22. Februar 2022 eine erneute Ablehnung. Daher legten wir am 26.02 die Klage ein. Auch wenn mir andere Hilfsmittel alternativ empfohlen wurden, so muss man sagen, dass elektronische Hilfsmittel nicht gleichwertig sind. Signale müssen von einer blinden oder sehbehinderten Person ausgewertet werden.

Das Sozialgericht forderte von meinen Ärzt*innen weitere Unterlagen an. Mein Lungenfacharzt hob den positiven Effekt für mein Asthma Bronchiale hervor.

Antrag Blindenführhund: Der Erörterungstermin

Am 23.01 fand der Erörterungstermin vor Gericht statt. Zur emotionalen Verstärkung hatte ich meinen Partner mit dabei. Auch, wenn man mich vor Ort selbstständig laufen sah, so wollte man von der Meinung, ich brauche eine Schulung in O&M nicht abweichen. Zudem wurden mir zwei weitere Punkte vorgehalten:

  1. Man hielt mir meinen Aufenthalt in der Tagesklinik vor. Reaktion meiner Anwältin: „Man muss sich ja nicht wundern, dass Menschen bei den ganzen Diskriminierungserfahrungen depressiv werden.“
  2. Ohne einen Langstock sähe ich ja nicht blind aus. Meine Reaktion: „Richtig. Weil Blindheit eine unsichtbare Behinderung ist“

Es verärgerte mich, dass man versuchte, meine Behinderung abzusprechen, weil ich keinem stereotypen Bild entsprach.

Im Vorfeld hatte ich natürlich mit einem Mobilitätstrainer gesprochen. Dieser wusste aber nicht, was er mir noch beibringen sollte. Dies erwähnten wir vor Gericht. Ich spürte Hoffnung, als die Gegenpartei ein erneutes Treffen für unnötig hielt, wenn ich dies schriftlich vorlegen konnte. Ich fragte also, wer die Kosten für das Gutachten tragen würde. Entgegen meiner Meinung sagte man mir, dass keine Kosten anfallen würden. Da ich aber kein Ende in Sicht sah, zahlte ich selbst den Einsatz des Mobilitätstrainers. Für den 12. April wurde geladen.

Der Mobilitätstrainer

Zwischenzeitlich störte die Krankenkasse mein Restsehvermögen und schloss eine Versorgung mit einem Blindenführhund aus. Und das obwohl auch hochgradig sehbehinderte Menschen eine Versorgung erhalten können und man im dreiwöchigen Training auf die individuelle Situation eingeht.

Ich hatte am 01.03 vier Schulungseinheiten in O&M. Es wurde ein Gutachten ausgestellt, das bestätigte, dass ich die Langstocktechniken beherrschte. Nach 11 Jahren Praxiserfahrung wunderte mich dies nicht. Es belegt jedoch zusätzlich folgende Aspekte:

  • Baustellen die sich auf dem Gehweg befinden
  • Bodenhindernisse durch beispielsweise: Außengastronomie, Aktionsaufsteller und Auslagen anderer Geschäfte
  • Schwierigkeiten bei der sicheren Straßenüberquerung aufgrund von hohem Lärmpegel und niedriger Bodenkante
  • Schwierigkeiten beim sicheren Besuch eines nahegelegenen Supermarktes durch große Parkfläche und fehlende Leitlinien.
  • Barrieren durch den Marktplatz bei dem Besuch von Ärzt*innen, Apotheken, Bäckereien etc.
  • Außengastronomien versperren diverse Leitsysteme

Da diese Situationen nicht mit einem Langstock zu kompensieren sind, wurde die Versorgung mit einem Blindenführhund empfohlen. Mit Hilfe dieses Gutachtens gab die Krankenkasse ein Anerkenntnis ab. Ich nahm es am 24.03. an und habe es somit geschafft.

Antrag Blindenführhund: So ging es weiter

Leider war noch nicht alles geschafft, denn ich sollte mir noch eine neue Blindenführhundschule suchen. Am 21. April öffnete ich einen Brief, der die Versorgung über die Leistungserbringerin meiner ersten Schule ablehnte. Der Grund hierfür: Ich sollte mir eine Blindenführhundschule suchen, die Vertragspartner meiner Krankenkasse ist. Glücklicherweise fand ich nach ein paar Telefonaten und Besuchen geeignete Blindenführhundschulen. Letztendlich bekam ich sogar Ende Juni einen Anruf. Ein schwarzer Großpudel namens Henry würde bereitstehen. Und so kam es, dass wir uns am 1. Juli kennenlernten und am 18. September die Einarbeitungszeit starteten.

Mehr zu diesem Thema und wie es weiterging erfahrt ihr auf Instagram oder auf meinem Blog.


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