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Wie barrierefrei ist Deutschland 2022?

Der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung stand dieses Jahr unter dem Motto: Tempo machen für Inklusion – barrierefrei zum Ziel. Anlass genug, einmal den Status Quo der Barrierefreiheit in Deutschland seit in Kraft treten der UN-Behindertenkonvention 2009 widerzugeben.

Eine Schranke zu einer Tiefgarage. | © Maecel Strauss|unsplash

Barrierefreiheit ist ein essentieller Bestandteil von Inklusion. (Maecel Strauss|unsplash)

Mit den individuellen Formen und Ausprägungen von Behinderungen und chronischen Erkrankungen gehen auch unterschiedlichste Ansprüche an die Barrierefreiheit einher. Eine Person mit einer Sehbeeinträchtigung braucht bedarfsgerechte Leitsysteme, um sich im öffentlichen Raum besser orientieren zu können. Ein Mensch im Rollstuhl zum Beispiel Rampen, Aufzüge und breitere Gänge in öffentlichen Gebäuden. Die Beispiele sind vereinfacht, zeigen aber wie komplex das Thema Barrierefreiheit ist.

Eine grafisch aufbereitete Straße zeigt die vielfältigen Aspekte der Barrierefreiheit. | © EnableMe Barrierefreiheit umfasst viele Bereiche, die sich gegenseitig beeinflussen und sich so behindern. (EnableMe)

Im Prinzip umfasst die Barrierefreiheit alles innerhalb und außerhalb der eigenen Wohnung. Dabei sollte die Gestaltung so sein, dass sie eigenständig genutzt werden kann. Die Bedeutung von Barrierefreiheit darf nicht mehr unterschätzt werden, da sie die Brücke zur sozialen Teilhabe darstellt und damit einen inklusiven Alltag ermöglicht.

Was hat sich also seit in Kraft treten der UN-Behindertenkonvention (UN-BRK) im Jahr 2009 im Bereich der Barrierefreiheit in Deutschland getan? 

Faktencheck Barrierefreiheit in Deutschland 2022

Der Faktencheck zum Status Quo der Barrierefreiheit fokussiert sich auf vier wichtige Bereiche: Wohnen und Bauen, Mobilität, inklusives Arbeiten sowie die digitalen Barrierefreiheit. Aufgrund der Komplexität und Wechselwirkungen muss von einer Vollständigkeit abgesehen werden.

Barrierefreies Wohnen und Bauen

Menschen mit Behinderungen dürfen nicht gegen ihren Willen gezwungen werden, in besonderen Wohnformen zu leben. Stattdessen müssen sie unabhängig von der Art oder Schwere ihrer Beeinträchtigung gleichberechtigt mit anderen ihren Wohnort selbstbestimmt wählen können
UN-BRK, Art. 19 Buchstabe a

Darüber hinaus verpflichten sich Staaten auch, institutionalisierte Wohnformen abzubauen und alternative, inklusivere Wohnkonzepte zu ermöglichen. Dies beinhaltet auch personenzentrierte Unterstützungsdienste sowie inklusive, barrierefreie Sozialräume. 

Deutschland zeigte 2015 einen sehr hohen Grad der Institutionalisierung der Wohneinrichtung, wie eine erste UN-Prüfung ergab.

Ein Balkendiagramm zeigt die unterschiedlichen Wohnformen von Menschen mit Behinderung. Fast Zweidrittel der Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf werden in stationären Einrichtungen betreut.

Die Abbildung aus der Analyse "Wer Inklusion will, sucht Wege" des Deutschen Instituts für Menschenrechte" zeigt, dass sich die Zahl der in betreuten Wohneinrichtungen lebenden Menschen mit Behinderung innerhalb der letzten 10 Jahre seit in Kraft treten der UN-BRK gesteigert hat. Darüber hinaus macht der Mikrozensus – eine Form statistische Erhebung – von 2018 deutlich, dass nur circa 1,5 Prozent der Bestandswohnungen barrierefrei oder barriere-arm sind. 

Speziell für Menschen mit einem erhöhten Unterstützungsbedarf kommen bei einer inklusiveren, selbständigeren Wohnalternative noch technische Assistenzlösungen hinzu.

Die Bauvorschriften auf Länderebene, dass nur ein Bruchteil der Neubauten barrierefrei sein muss. Aber, wie hierbei Barrierefreiheit definiert wird, ist wieder unterschiedlich auslegbar – Gesetze beinhalten Ausnahme-Regelungen bei zum Beispiel „unverhältnismäßigem Mehraufwand“. Dabei wäre es weit kostengünstiger von Anfang an barrierefrei zu bauen, statt umzubauen. 

Erschwerend ist zusätzlich, dass nur vier der 16 Landesregierungen inklusives Wohnen als wichtigen Punkt in ihren Regierungsprogrammen aufgenommen haben. Auch beim Thema der Gestaltung inklusiver Sozialräume gibt es gesetzliche Vorgaben in den Behindertengleichstellungsgesetzen von Bund und Länder. Wie jedoch die Zugänglichkeit von Geschäften, Restaurants oder Arztpraxen ist dabei nicht geregelt.

Positive Entwicklungen im Bereich inklusiven Wohnens

  1. Das 2008 eingeführte Persönliche Budget als Leistungsform. 
  2. Das 2020 eingeführte Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz, BTHG), dass die Leistung nach individuellen Bedarfen regelt und nicht mehr nach der Wohnform.
  3. Das Hamburger Ambulantisierungs-Programm zum Ausbau der ambulanten Betreuung von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen. Damit ist Hamburg auch eines der wenigen Länder, welche die Fallzahlen im stationären Wohnen senken konnte.

Barrierefreie Mobilität

Uneingeschränkte Mobilität ist nicht nur Teilhabe, sondern ein essentieller Schlüssel zur persönlichen, sozialen und beruflichen Weiterentwicklung. Daher existenziell für alle Menschen. Und gerade für Menschen ohne eigenes Fahrzeug ist der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in Großstädten die Institution, die den Aktionsradius und damit die Teilhabe flexibel ermöglicht. Jedoch nur, wenn der ÖPNV auch barrierefrei zugänglich ist für Menschen mit Behinderungen. 

Barrierefreiheit beinhaltet hierbei sowohl Verkehrsmittel und Verkehrswege sowie Informationssysteme ein, als auch die Bereitstellung angemessene Vorkehrungen nach UN-BRK Artikel 5 Absatz 3. Dies schließt vor allem die Anerkennung der Vielfalt an Behinderungsformen ein. Wodurch auch im Einzelfall die vollständige Zugänglichkeit gewährleistet sein soll. 

Einführung des Personenbeförderungsgesetzes (PBefG) 2013

Das PBefG verpflichtet alle Aufgabenträger zu einer vollständigen Barrierefreiheit im Nahverkehrsplan bis 01.01.2022. Darin finden hauptsächlich die Belange von Menschen mit körperlichen und sensorischen Einschränkung Berücksichtigung. Es schreibt ebenfalls vor, dass Behindertenbeauftragte, -beiräte und -vereine angehört werden müssen. 

Jedoch gibt es eine Ausnahme-Klausel § 8 Absatz 3 Satz 4 und 62 Absatz die Fristen und die vollständige Barrierefreiheit einschränken kann. Und zwar denn, wenn es hinreichende Begründungen der Aufgabenträger zur Zielerreichung gibt, wenn technische oder wirtschaftliche Aspekte dagegensprechen. 

Ein Diagramm zeigt die ÖPNV-Gesetze der Bundesländer und ihre Vereinbarkeit mit der UN-BRK. Berlin berücksichtigt im ÖPNV-Gesetz als einziges Bundesland die Barrierefreiheit nach UN-Behindertenkonvention.

In der Abbildung wird erkenntlich, dass der ÖPNV länderspezifisch geregelt ist mit entsprechend 15 verschiedenen Gesetzen. Hamburg wird dabei über Schleswig-Holtstein geregelt und Niedersachsen geregelt. Berlin hat Alleinstellungsmerkmal.

Hierbei muss erwähnt werden, dass nur die ÖPNV-Gesetze die Anforderungen des PBefG berücksichtigen können, die nach 2013 in Kraft getreten sind. Daher nehmen Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Nordrhein-Westfalen die Anforderungen nicht auf. Wobei letzteres Bundesland eine Sonderrolle einnimmt, da es in seinem ÖPNV-Gesetz den Artikel 9 der UN-BRK aufgenommen hat. Dieser Artikel beinhaltet die Barrierefreiheit von unter anderem Transportmittel, Technologien, Informations- und Kommunikationsdiensten.

Positivbeispiel Berlin

Berlin ist das einzige Bundesland, dass seit 2018 weitestgehend alle Anforderungen der UN-BRK in ihrem ÖPNV-Gesetz wiedergibt. Dies umfasst auch die angemessenen Vorkehrungen im Einzelfall – und erkennt damit die Vielfalt und die individuell differenzierten Bedarfe der Behinderungsformen an.

Erweiterung des Personenbeförderungsgesetzes 2021

  • Neue On-Demand Mobilitätsangebote, bei denen es sich um ein Linienbedarfsverkehr handelt.
  • Gesetzliche Regelung für Taxen, wonach die Belange von Menschen mit körperlichen Behinderungen sowie mit Sinnesbeeinträchtigungen berücksichtigt werden müssen. 
  • Paragraph 64c Absatz 1 PBefG regelt das Thema der barrierefreien Fahrzeuge von Unternehmen. Es besagt, dass bei 20 oder mehr Fahrzeugen 5 Prozent barrierefrei bereitzustellen sind.
  • Punkt 3 gilt auch für On-Demand-Mobilitätsangebote, wenn es sich um gebündelten Bedarfsverkehr handelt. 

Barrierefreie Arbeitsplätze und inklusives Arbeiten

Die Arbeit trägt zu einem erheblichen Teil zur sozialen Teilhabe bei. Das Statistische Bundesamt ermittelte für 2019, dass rund 57 Prozent der Menschen mit Behinderung zwischen 15 und 64 Jahren berufstätig waren oder nach einer Tätigkeit suchten.

Dabei verpflichtet der § 164 SGB IX Arbeitgeber*innen dazu, frei zu besetzende Stellen dahingehend zu prüfen, ob sie bei der Agentur für Arbeit gemeldete Menschen mit Schwerbehinderung oder ihnen Gleichgestellte beschäftigen können. Das SGB im Allgemeinen regelt die Anpassung der Arbeit an die Behinderung. Darunter fallen auch der Arbeitsplatz selbst sowie erforderliche technische Hilfsmittel. 

Ein weiteres, wichtiges Gesetz ist der § 154 SGB IX, der sowohl private als auch öffentliche  Arbeitgeber*innen mit mehr als 20 Mitarbeitenden dazu verpflichtet, mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderungen zu besetzen. Unternehmen, die unterhalb dieser Quote bleiben, müssen eine Ausgleichsabgabe bezahlen. Diese beträgt 2021 zwischen 140 bis 360 Euro.

2020 wurden 173.326 beschäftigungspflichtige Arbeitgeber*innen ermittelt, wovon 44.793 keinen Pflichtarbeitsplatz besetzten. Insgesamt lag die Beschäftigungsquote im privaten Sektor bei 4,1 Prozent und im öffentlichen Bereich bei 6,4 Prozent.

In einer Forsa Umfrage gaben 28 Prozent der Unternehmen an, vollständig barrierefrei zu sein. Wobei hierbei wiederum wieder die Individualität der Behinderung zu berücksichtigen ist. Denn Barrierefreiheit am Arbeitsplatz kann vielfältige Bedürfnisse umfassen, zum Beispiel dem Bürogebäude selbst mit nahegelegenen PKW Stellplätzen für das Ein- und Ausladen eines Rollstuhls sowie Rampen, Fahrstühle und Sanitäranlagen.  Auch speziell eingerichtete Arbeitsplätze mit Eingabehilfen und weiteren Assistenz-Technologien können je nach Behinderung zum Einsatz kommen.

Dies spiegelt auch die Gründe wider, weshalb Unternehmen mitunter keine Menschen mit Behinderung beschäftigen, wie in der Abbildung aus der Studie von Böcker Ziemen sichtbar wird. Wobei ein weiterer genannter Punkt, die Annahme wiedergibt, Menschen mit Behinderungen hätten eine geringere Leistungsfähigkeit. 

Eine Umfrageauswertung von Unternehmen zur Nichtbeschäftigung von Menschen mit Behinderung. Bauliche Begebenheiten sind der Hauptgrund für die Nichtbeschäftigung von Menschen mit Behinderung.

Ein weiterer Fakt ist, dass das Durchschnittsalter der Menschen mit Schwerbehinderungen höher ist, da sie mit 89 Prozent erst im Verlauf des Lebens durch eine Krankheit entstehen (Statistisches Bundesamt). Dem gegenüber steht eine immer stärker alternde Gesellschaft gegenüber, sodass die Herausforderung darin besteht, die Arbeitsfähigkeit so lang wie möglich erhalten zu können.

Strategien und Instrumente zur Förderung von Menschen mit Beeinträchtigung auf dem Arbeitsmarkt

Aus einer Studienbefragung von 466 Personalverantwortlichen in US-amerikanischen Unternehmen 2021 lässt sich ableiten, dass Inklusion durch die Führungskultur gefördert werden kann.

Darüber hinaus wurden folgende Faktoren identifiziert, die sowohl zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit beitragen sollen als auch der Integration in den ersten Arbeitsmarkt dienen können:

  • Inklusiv ausgerichtete Führungskulturen mit unterstützendem Betriebsklima und Achtsamkeit der Vorgesetzten.
  • Sensibilisierung durch Good-Practise-Beispiele sowie generelle positive Erfahrungen im Unternehmen.
  • Sozialpartner-Initiativen und Ansprechstellen für Arbeigebende (Teilhabestärkungsgesetz).
  • Chancen der Digitalisierung sowie technisch-organisatorischer Anpassungen (Barrierefreiheit).
  • Informationen zu Hilfsmitteln, Ansprechpersonen und Fördermöglichkeiten.
  • Gesundheitsmanagement und betriebliches Eingliederungsmanagement.
  • Probebeschäftigungen mit Kostenerstattung.

Digitale Barrierefreiheit

Bereits 2006 definierten die Vereinten Nationen den ungehinderten Zugang zu Information und Kommunikation als Menschenrecht. Das Internet und die damit verbundenen digitalen Medien, sozialen Medien, Apps, Websites und allgemein Software sowie Hardware. 

Gerade für Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit ist das Internet eine wichtige Ressource, um sich mit anderen Menschen verbinden und eine Vielfalt an Angebote nutzen zu können. Innerhalb der Corona Pandemie wurde das Internet für Risikogruppen zu einem noch wichtigeren Bestandteil des Alltages. Zusätzlich führte die Krise dazu, die Digitalisierung zu beschleunigen.

Eine Frau sitzt an ihrem Bett und schreibt in ein Notizbuch. | © pexels Das Internet ist für Menschen mit Behinderung ein starker Treiber für soziale Teilhabe. (pexels)

Ein Bestandteil, um dieses Thema in Deutschland voranzutreiben, ist die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0), neben Auszügen aus den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.0) fokussiert sich die Verordnung vor allem auf Gebärdensprache und Leichte Sprache.

Darüber hinaus sollten zu einem barrierefreie Webdesign folgende Punkte gehören:

  • Individuelle Einstellungsmöglichkeiten der Darstellung (Text-Größe, Farbe, Kontrast)
  • Alternativ-Texte für visuelle Darstellungen für Screen-Reader
  • Alternativ-Texte und/oder Untertitel für Video- und Audio-Inhalte
  • Navigationsmöglichkeiten über Tastatur oder Leichte Sprache
  • Übersichtliche Strukturierung der Seiteninhalte mittels Überschriften, Absätzen und Listen

Seit 2021 ist der öffentliche Sektor nach der EU-2016/2102 Richtlinie verpflichtet, Websites barrierefrei zu gestalten. Der European Accessibility Act (EAA/Barrierefreiheitsstärkungsgesetz) regelt seit Juni 2022 die digitale Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen innerhalb der EU. In Deutschland wurde er ins Barrierefreiheitsstärkungsgesetz übersetzt.

Einige Beispiele für Produkte und Dienstleistungen, die barrierefrei gestaltet werden müssen:

  • Hardware: Computer, Smartphones, E-Reader, Tablets, Bankgeräte, Geldautomaten, Ticketing 
  • Software: Betriebssysteme, Apps und E-Books 
  • Online-Dienste: Websites, Apps für den elektronischen Handel; Bankdienstleistungen; Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten 

Die positive Nachricht hat allerdings einen kleinen Haken: Die Umsetzung der auf dem EAA begründeten digitalen Barrierefreiheit hat eine Übergangsfrist von gut drei Jahren. Und kritisch wird auch die Frage danach: Wenn der Geldautomat barrierefrei ist, aber nicht das Gebäude – was dann?

Anhand dieser Frage wird auch sehr deutlich, wie stark die einzelnen Bereiche der Barrierefreiheit voneinander abhängen und letztlich das Vorankommen in Punkto Inklusion beeinflussen. Um die Umsetzung einer vollständigeren Barrierefreiheit stärker voranzutreiben, sollte es Ziel werden, disziplin-übergreifende Lösungen zu entwickeln. Es wird uns allen zugutekommen.


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